Aufgrund der Isolation von Corona beginne ich täglich Zeit im Wald zu verbringen. Die damit verbundenen Erfahrungen und Erkenntnisse halte ich in Tagebuchform fest.
ZEICHEN SETZEN | 1.4.2020
Wenn ich heute alles über Bord werfe, was mein Denken über Kunst im allgemeinen – und mein eigenes künstlerisches Schaffen im speziellen – bisher so ausmachte, was bleibt dann über?
Welche Spur will ich als Mensch in den nächsten Jahrzehnten hinterlassen, die davon zeugt, dass es mich als Künstlerin gegeben hat?
Und sollte ich als Künstlerin nicht zuallererst ein leicht nachzuahmendes Vorbild sein, das Mut macht, den in jedem Menschen innewohnenden Künstler samt seiner heilsamen Schöpferkraft, zum Ausdruck zu bringen?
ALLEINE IM WALD | 2.4.2020
Wie anders ist die Begegnung mit dem Wald, wenn ich alleine bin. Ich staune und schaue und schaue und staune. Meist komme ich nicht weit. Mein Eintauchen in den Wald ist kein Wandern sondern ein stiller Ausgleich. Ich gleiche mich aus!
Zwei Äste lege ich vorsichtig quer auf einen zarten, dünnen Stamm. Mein Balanceakt glückt und lässt mich glauben, ein Waldschild errichtet zu haben. Ich schaue mir mein leicht schwankendes Gebilde von allen Seiten an und frage mich, was darauf wohl in luftigen, sonnendurchfluteten Lettern geschrieben sein könnte.
DAS ABSICHTSLOSE SPIEL | 3.4.2020
Wer kreativ sein möchte, muss sich zuallererst das Spielen wieder erlauben und zwar das absichtslose Spiel ganz alleine.
Manch einer kommt sich dabei vielleicht kindisch oder sogar verrückt vor. Doch lässt man diese Bewertung des Verstandes mal weg und folgt mit offenem Herzen seinen Impulsen, dann steht die Zeit still. Man taucht ein in den sogenannten Flow und erlebt ein glückliches Versinken im Tun.
Erwachsene müssen das Spielen nicht neu erlernen, doch sie müssen es sich erlauben. Dann öffnet sich ein Tor und sie betreten das Reich des Schöpferischen.
CORONATAGEBUCH | 4.4.2020
Die Isolation wirkt und formt. Welches Werk ist zukünftig wert, erschaffen zu werden? Welche Bilder- oder Formensprache dient dem großen Ganzen?
Und was tue ich da plötzlich, wenn ich Zeichen in die Natur setze, die sich so einfügen, dass sie beinahe nicht sichtbar sind und nur im Moment des Schaffens ganz kurz als Werk erscheinen.
Heute habe ich kleine, gelbe Blümchen mit einer klebrigen Schlingpflanze auf einen Stecken gebunden. So konnte ich sie ins ‚Holzfenster‘ schieben und abschließend zufrieden mein Werk bestaunen.
DANK DEM WALD | 5.4.2020
Zuerst habe ich eine Birke von langen Lianen befreit und dann daraus vier Kränze gebunden. Man sieht sie auf dem Foto kaum, doch sie hängen an diesem prachtvoll blühenden Baum. Mit einem langen Stock habe ich sie einzeln hochgesteckt.
Die unzähligen Bienen, welche zwischen den Blüten schwirrten, erzeugten ein so intensives Summkonzert, dass mir das Gezwitscher der Vögel leiser als sonst erschien.
Jeder Tag im Wald ist ein Geschenk voll Sinnesfreuden und Inspiration!
HEILSAME WALDZEIT | 6.4.2020
Erstaunt bemerke ich, dass mein Leben im Moment ganz genau so ist, wie ich es mir seit Jahren erträume. Ich fühle mich frei, bin täglich im Wald und hinterlasse trotzdem eine kreative Spur in Form von kleinen Zeichen.
Seit Jahren begleitet mich der Gedanke, dass ich zu wenig in der Natur bin. Doch ich hatte so viel zu tun – Arbeit im Haus und Garten, Malen und Werken, Einkaufen, Verabredungen, Unternehmungen, …
Und plötzlich ist alles wie weggeblasen. Ich lebe so frei, dass ich täglich Zeit im Wald verbringe!
ZEICHEN ALS RITUAL | 7.4.2020
Heute ist der siebente Tag, an dem ich in Serie Zeit in einem der nahe gelegenen Wälder verbringe. Das Wetter ist prächtig und ich bin durchdrungen von einer glückseligen Zufriedenheit.
Während ich meinem heutigen Impuls – Blümchen in den moosigen Baumstumpf zu stecken – folgte, kamen zwei Rehe ganz nah heran, die mein stilles Tun beäugten. Ich hatte im Gegenzug die Möglichkeit, die schönen Tiere zu bestaunen.
Meine kleinen, kreativen Gestaltungen sind mir bereits ein lieb gewordenes Ritual und mein Tagebuch füllt sich mit Erinnerungen an achtsam gesetzte Zeichen.
BOCKERLN SAMMELN | 10.4.2020
Es brauchte mehrere Versuche, um die Bockerln aufzuschlichten.
Doch mein Ehrgeiz war geweckt und mit jedem Neubeginn lernte ich, die Bockerln noch vorsichtiger zu setzen.
Nach dem Foto machte ich noch ein kurzes Video von meinem Bockerlwerk. Und zwei Sekunden später purzelten die Bockerln wieder zu Boden.
Ich klaubte sie ein letztes Mal auf, doch diesmal um sie mit nach Hause zu nehmen. Zum Anheizen werden sie mir weitere gute Dienste leisten.
DER TEMPELBAUM | 13.4.2020
“Was machen Sie hier?” fragt mich ein vorbeigehender Jugendlicher.
“Ich habe vorhin Schneckenhäuser gesammelt und die lege ich jetzt hier auf den Baum,” antworte ich ihm.
Später begegnen wir uns beim Ausgang zur Klamm nochmals. „Warum heben Sie Schneckenhäuser vom Boden auf und geben ihnen einen neuen Platz? Was bedeutet das, was Sie da machen?“
„Gefällt es dir?“ ist meine Gegenfrage. „Ja, natürlich!“ sagt der Jugendliche. „Ich habe beim Rückweg sogar ein Foto von den Schneckenhäusern im Baum gemacht!“
DIE LUFTIGE MAUER | 20.4.2020
Zuerst wollte ich auf den Stamm nur eine Reihe Steine legen. Doch dann ist diese kleine Mauer entstanden.
Der leichte Wind, das Sonnenlicht und auch die Ameisen und Käfer finden ihren Weg durch all die Lücken und Ritzen. In der Isolation solch eine durchlässige, vom Licht durchflutete Mauer zu bauen, fühlt sich gut an.
Ich versuche mir den Platz zu merken. Vielleicht komme ich irgendwann mal wieder hierher. Dann will ich nachschauen, ob meine luftige Mauer noch steht. Es könnte gut sein, dass zwar ein leichter Wind mit ihr spielt, doch ein starker Sturm sie zerstört.
DIE SCHLÜSSELBLUMEN | 21.4.2020
Tief durchatmen, frei atmen, all die Bilder der Menschen mit Masken loslassen. Weiter atmen, tief atmen, schauen und staunen, innehalten und langsam weiter gehen.
Plötzlich bin ich auf einer wunderschönen, großen Wiese. Das Gefühl von Freiheit durchdringt mich. Rasch schreite ich den sanften Hügel hinauf.
Ich lege mich auf den Wiesenboden, schließe die Augen und werde ganz ruhig.
Im Wald umgibt mich eine vollkommene Welt. Doch die Welt außerhalb des Waldes braucht eine neue Ordnung.
DER ZWISCHENRAUM | 22.4.2020
Es ist so wie jeden Tag. Plötzlich ist da ein Platz oder Baum – im heutigen Fall war es der Raum zwischen zwei Bäumen – der mich magisch anzieht. Und ich weiß auch stets sofort, was ich dort zu tun habe.
Da gibt es kein Überlegen oder Auswählen, von verschiedenen Möglichkeiten. Das Erkennen des Platzes ist verbunden mit einer Idee.
Heute galt es Äste auf die richtige Länge zu brechen, um sie dann zwischen die beiden Stämme zu klemmen. Am liebsten hätte ich noch weit mehr Stäbe angebracht, doch meine Körpergröße setzte dem Werk ein baldiges Ende.
TIPI BAUEN | 2.5.2020
Das ist das erste Tipi, das ich im Wald angelegt habe. Es steht an einem Platz, den ich leicht wiederfinde werde. Vielleicht baue ich daran weiter.
Das Bauen des Tipis war mit dem Gefühl verbunden, dass ich im Wald einen Raum abstecke, der jetzt mir gehört.
Dann ist mir das Zitat eingefallen, dass jeder Mann einmal in seinem Leben einen Baum pflanzen sollte. Und während ich die langen Äste durch das Gestrüpp zog, ergänzte ich es gedanklich damit, dass jede Frau einmal in ihrem Leben die Erfahrung machen sollte, ein Tipi im Wald zu bauen.
WALDRUNDGANG | 3.5.2020
Bis jetzt war ich stets in verschiedenen Wäldern rund um meine Heimatstadt unterwegs und habe zumeist an Plätzen etwas gebaut, die ich nur schwer wiederfinden würde.
Heute hatte ich plötzlich eine neue Idee. Was wäre, wenn ich mehrere Gestaltungen in ein und dasselbe Waldstück setze und mir diese Markierungspunkte gut merke?
Dann könnte ich im Sommer Familie und gute Freunde auf einen Rundgang durch den Wald einladen und ihnen all meine ‚Geheimplätze‘ zeigen. Und vielleicht bauen wir sogar gemeinsam ein weiteres Werk.
GEHEIMPLÄTZE ENTDECKEN | 5.5.2020
Angelockt hat mich das dunkle Braun des Stammes. Ich streiche über das glatte, rindenlose Holz und höre plötzlich das aufgeregte Piepsen und Zwitschern von kleinen Vögeln. Suchend schaue ich mich um, wo das Vogelnest versteckt ist.
Da bemerke ich die runden Löcher im Holz. Die hungrig zwitschernden Stimmen dringen aus dem hohlen Stamm zu mir.
Vorsichtig stecke ich drei Federn in den Baum und markiere so meinen Fund in der Natur. Ich nehme mir vor, dass ich bei meinem nächsten Streifzug in diesem Wald hier wieder vorbeischauen werde.
ES IST ANGERICHTET | 6.5.2020
Die abgeschnittenen Baumstümpfe vor den hochgewachsenen Laubbäumen erinnern mich an eine Anrichte oder Kredenz. Ich beginne all die Holzstück, die in der hohen Wiese liegen, aufzuschlichten.
Am Schluß sind sogar noch ein paar lange, dicke Äste zur Hand, die moosbewachsen in zauberhaften Grüntönen leuchten.
Es ist so einfach, im Wald ein kleines Werk zu gestalten. Die Materialien liegen mir zu Füßen. Ich hebe sie auf, gebe ihnen einen neuen Platz und während meine Kreativität fließt, nehme ich zeitgleich all die Kraft und Schönheit der Natur in mich auf.